H. P. Obermayer: Deutsche Altertumswissenschaftler im Exil

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Titel
Deutsche Altertumswissenschaftler im amerikanischen Exil. Eine Rekonstruktion


Autor(en)
Obermayer, Hans Peter
Erschienen
Berlin 2014: de Gruyter
Anzahl Seiten
XXVI, 750 S.
Preis
€ 149,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kay Ehling, Staatliche Münzsammlung München

Hans Peter Obermayer behandelt das Schicksal von zehn nach 1933 in die USA emigrierten Altertumswissenschaftlern: Margarete Bieber, Karl Lehmann-Hartleben, Elisabeth Jastrow, Otto Brendel, Kurt von Fritz, Ernst Kapp, Paul Oskar Kristeller, Ernst Abrahamsohn, Ernst Moritz Manasse und Paul Friedländer. Die Auswahl ergab sich nicht „nur durch Art und Umfang des Quellenmaterials“, sondern auch aus den „persönlichen Beziehungen der Emigranten zueinander“, der Fachzugehörigkeit und dem „Ort, an dem sie sich etablierten“ (S. 18). So waren fünf der Genannten, Bieber, von Fritz, Kristeller, Kapp und Brendel, an der New Yorker Columbia University tätig, und ebendort ist im Wesentlichen auch das umfangreiche Buch in mühevoller Archivarbeit entstanden (S. IX) – wenigstens von der Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert. Denn einleitend wird daran erinnert, dass die DFG 1969 den von Karl Christ initiierten Projektantrag zum Thema „Alte Geschichte und Nationalsozialismus“ abgelehnt hatte (S. 4). Aus heutiger Sicht nicht weiter erstaunlich, war doch etwa Fritz Taeger, auch er ein Marburger, gerade erst vor einigen Jahren verstorben. Dem Verfasser von „Das Altertum: Geschichte und Gestalt“ mochte Bieber nach dem Krieg kein Entlastungsschreiben („Persilschein“) ausstellen (S. 103).

Margarete Bieber war eine Ausnahmefrau mit Ausnahmekarriere: Die klassische Archäologin, die als zweite Frau an der Philosophischen Fakultät Bonn 1907 bei Georg Loeschcke promoviert wurde, 1909/10 das Reisestipendium des DAI zugesprochen bekam, in Athen zwischen 1910 und 1912 und anschließend in Rom beim DAI beschäftigt war, 1915 den Lehrstuhl ihres Lehrers in Bonn vertrat, sich im Mai 1919 als erste Frau in Gießen habilitierte, 1923 zur außerplanmäßigen und 1931 zur planmäßigen außerordentlichen Professorin in Gießen ernannt wurde, wurde mit Wirkung zum 1. Juli 1933 entlassen (S. 41). Am 5. Juli begann Bieber die ersten von über 50 Bewerbungs- und Bittschreiben zu verschicken. Dabei bot sie an, ihre Bücher und die Sammlung an Kleinobjekten und Fotos mitzubringen. Sie schreibt nach New York: „I am in the possession of a good library, a collection of photos of Greek und Roman sculptures and a small collection of Greek vases and terracottas. That means that I could bring with me a valuable fund for any University that wishes to found a new Institute of classical Archaeology. […] I could manage to deliver lectures on the History of Greek and Roman Art, on ancient Theater, ancient dress, ancient Portraiture, on ancient cities as Athens, Rome, Pompei, Olympia, Delphi and so on in English“ (S. 44). Mit Glück erhielt sie zunächst eine Einladung nach Oxford und konnte anschließend mit Unterstützung zahlreicher Personen, etwa Gisela Richters (die als Kuratorin für griechische und römische Kunst am Metropolitan Museum in New York tätig war und sich ebenso für Lehmann-Hartleben und Jastrow als Fürsprecherin engagierte, S. 18, Anm. 53), in die USA auswandern. Im September 1935 war es dann möglich, ihre Adoptivtochter Inge und ihre Lebensgefährtin Katharina Freytag endgültig aus Deutschland nachzuholen.

Als Karl Lehmann-Hartleben mit Wirkung zum 1. Oktober 1933 wegen „nicht-arischer Abstammung“ in den Ruhestand versetzt wurde, war der Achtunddreißigjährige Ordinarius für Klassische Archäologie an der Universität Münster. Wie Obermayer richtigstellt, war Lehmann-Hartleben zum Zeitpunkt seiner Erlassung nicht, wie immer wieder zu lesen ist, in Pompeji, wodurch der Eindruck erweckt wurde, dieser wäre mehr oder minder freiwillig außer Landes gegangen, um von dort nicht mehr nach Deutschland zurückzukehren (S. 112f.). Tatsächlich ging Lehmann-Hartleben erst unter dem wachsenden Druck im Oktober 1933 nach Italien. Von Rom aus versuchte er „verzweifelt seine berufliche Zukunft neu zu organisieren“ (S. 113) und nahm Verbindung in die USA auf, wo er in R. C. Flickinger, dem Head of the Department of Classical Languages an der State University of Iowa und Editor-in-Chief des Classical Journal, einen höchst engagierten Fürsprecher fand. Flickinger schrieb das Emergency Committee an. Auch W. W. S. Cook, der Gründer und Direktor der Graduate School des Institute of Fine Arts der New York University, zeigte Interesse an einer Verpflichtung Lehmann-Hartlebens. Nach zwei Jahren endete für die fünfköpfige Familie eine Zeit „quälender Unsicherheit und verzweifelten Wartens“. Zum September 1935 konnte Lehmann-Hartleben seine Lehrtätigkeit an der New York University aufnehmen.

Den Namen von Elisabeth Jastrow sucht man vergebens in den Annalen der Klassischen Archäologie; es ist deshalb umso begrüßenswerter, dass Obermayer ihr ein umfangreiches Kapitel widmet. Die Tochter des Ordinarius für Staatswissenschaften an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität Ignaz Jastrow studierte in Berlin, Bonn und Heidelberg, wo sie bei Friedrich von Duhn mit einer Arbeit über „Ton-Altärchen aus den westgriechischen Kolonien“ summa cum laude promoviert wurde (S. 134). Jastrow wurde 1916 Assistentin von Franz Studniczka (S. 134). Nächste Stationen waren Gießen und das DAI in Athen und Rom. 1930 holte Paul Jacobsthal Jastrow als Assistentin nach Marburg (S. 136). Am 1. Mai 1933 verließ sie die Stadt an der Lahn, um nach Bonn unter Richard Delbrueck am Akademischen Kunstmuseum einen Katalog der Vasensammlung zu erarbeiten. „Doch bevor sie noch ihren ersten Arbeitstag antreten konnte, war sie schon wieder entlassen: die Universität Bonn fügte sich den neuen Bestimmungen des ‚Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‘ und machte ihre Stellenzusage wieder rückgängig, da Jastrow nicht arischer Abstammung war“ (S. 137). Es folgten Bitten um Empfehlungsschreiben, Anträge, Bewerbungen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Jastrow konnte mit einem Internationalen Fellowship der American Association of University Woman in Washington eine Reise durch die italienischen Museen unternehmen. Am Ende, 1941, stand eine Anstellung als Lecturer in Greek and Roman Art am Woman’s College der University of North Carolina, wo sie 1944 dreiundsechzigjährig zum Associate Professor befördert wurde (S. 190).

Otto Brendel, der Autor der „Prologomena to a Book on Roman Art“, der wohl wichtigsten Arbeit zur römischen Kunsttheorie, stammte aus einem evangelischen Pfarrhaus in Nürnberg und wurde nach der Promotion bei Ludwig Curtius, seiner Habilitation bei Georg Lippold als Curtius’ Assistent am DAI in Rom zum 1. Oktober 1935 entlassen, da die Familie seiner Ehefrau, Maria Weigert, „jüdischer Abstammung war“ (S. 194). „Während seine Frau“, wie Obermayer schreibt, „nach Berlin zurückkehrte und mit Unterstützung der Eltern unter falschem Namen eine eigene Wohnung anmieten und die 1931 geborene Tochter Cornelia regulär einschulen konnte, suchte er mit aller Macht in England oder Amerika eine Anstellung zu finden“ (S. 195). Wieder begann eine Zeit intensiven Bemühens und „quälenden Wartens“ (S. 198). Ab 1939 verschärfte sich die Situation in den Aufnahmeländern noch dadurch, dass diese zusätzlich die Flüchtlinge aus Österreich und Italien zu versorgen hatten, worauf Obermayer mit Recht aufmerksam macht (S. 204, Anm. 55). Eine Bewerbung Brendels bei der Washington University in St. Louis führte zum Erfolg. Eine Woche nach Kriegsausbruch kamen Maria und Cornelia Brendel in New York an. Die Zeit der Jahresverträge endete im Sommer 1941 mit der Berufung an die Indiana University in der Stellung eines Associate Professor. Doch erst zum 25. Juni 1956 wurde Brendel als Professor of Fine Arts and Archaeology an die Columbia University geholt (S. 218, Anm. 115).

Die Lebensläufe und Schicksale der klassischen Philologen Ernst Kapp und Kurt von Fritz sind so eng miteinander verknüpft, dass Obermayer diese gemeinsam in einem Kapitel gleichsam als „Parallelbiographien“ behandelt. Zunächst half der Lehrer Kapp seinem Schüler von Fritz, dann war es umgekehrt. Bekanntlich ist von Fritz der einzige deutsche Hochschullehrer, der den Diensteid der Beamten auf den ‚Führer‘ des Deutschen Reiches nicht leistete (der zweite war der Schweizer Theologe Karl Barth), und zwar mit der Begründung, dass er sich außerstande dazu sehe, „auf höheren Befehl Lehren vorzutragen, welche der eigenen Überzeugung widersprechen“ (S. 248). Das Reichskulturministerium „versetzte von Fritz am 16. April 1935 kurzerhand in den dauernden Ruhestand“ (S. 254). Nachdem in München gegen ihn ein Bibliotheksverbot ausgesprochen worden war, empfand von Fritz es Zeit seines Lebens als „Rettung“ (S. 297, Anm. 288), dass er von Eduard Fraenkel nach Oxford ans Corpus Christi College eingeladen wurde. Die Überlieferung ist hier besonders dicht, da von Fritz fast täglich seine Frau brieflich von den neuesten Neuigkeiten unterrichtete. Nicht ganz glücklich war er, als sich die Perspektive ergab, an das Reed College in Portland, Oregon, wechseln zu können. Doch konnte er so seine Familie in die USA holen. Schließlich war es wieder Margarete Bieber, die eine Berufung von Fritz’ als Visiting Associate Professor einfädelte. Von Fritz’ Lehrer Ernst Kapp wurde mit Wirkung zum 31. Oktober 1937 in den Ruhestand versetzt, weil seine Frau Else jüdischer Herkunft war. Die Universität Hamburg tat nichts, um den politisch unbequemen Kapp zu halten. Einer der Ersten, der sich für Kapp einsetzte, war Erwin Panofsky, der 1935 an das Institute for Advanced Study nach Princeton berufen worden war: Kapp sei, schreibt er, „one of the best, if not the best, Aristotelian alive“ (S. 311). Weihnachten 1938 kam Kapp mit seiner Frau für insgesamt 16 Jahre in die USA, wo sich von Fritz für ihn stark machte. Interessant ist, dass sich Werner Jaeger, über den Obermayer einleitend notiert, dieser habe sich als Helfer auffallend zurückgehalten (S. 24), für Kapp verwendete und als Mitarbeiter an der Gregor von Nyssa-Edition beschäftigte. Kapp wurde 1941 Visiting Lecturer in Greek and Latin an der Columbia und 1948 mit Hilfe von Fritz’ gegen Widerstände Professor.

Paul Oskar Kristeller wurde im Juli 1928 bei Ernst Hoffmann mit einer Arbeit über Plotin promoviert. Auf Empfehlung etwa Martin Heideggers ging er unterstützt von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft nach Italien um die Plotin-Kommentare des Florentiner Humanisten Marsilio Ficino zu studieren. „Dort ereilten ihn im April 1933 die ersten Nachrichten von den Maßnahmen der neuen nationalsozialistischen Regierung“ (S. 410). Nach einer Zeit in Berlin reiste Kristeller im Februar 1934 nach Rom und wohnte einige Monate bei Richard und Sofie Walzer (geb. Cassirer), die ebenfalls in die Emigration gezwungen worden waren. In Florenz fand er Anstellung in einem Landschulheim, und nachmittags gab er Deutschkurse. Von 1935 bis 1938 war er Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Scuola Normale Superiore in Pisa und stellte einen Antrag auf die italienische Staatsbürgerschaft, was aber scheiterte. Als sein „Supplementum Ficinianum“ 1937 erschien, „war es Kristeller endgültig geglückt sich in der italienischen Gelehrtenwelt zu etablieren“ (S. 446). Die Universität Pisa verlieh ihm den Grad eines Dottore in Filosofia und die altehrwürdige Akademie nahm ihn als Mitglied auf. Doch wieder kam es ganz anders: Die faschistische Regierung initiierte im Jahr 1938 eine Reihe antijüdischer Gesetze; das Gesetz Nr. 1390 vom 5. September schloss alle Juden von Schulen, Universitäten und Akademien aus. Etwa 390 Universitätslehrer verloren quasi über Nacht ihre Stellung, wie es bei Obermayer heißt (S. 458). Ein weiteres Gesetz ordnete die Ausweisung aller ausländischen Juden an. Mit Hilfe von Freunden und wohlwollenden Kollegen unternahm Kristeller alles, um in England oder den USA unterzukommen. Wie auch in so vielen anderen, unfassbaren Fällen, hing das Schicksal manchmal nur an dem einen sprichwörtlichen seidenen Faden. Kristeller wurde für ein Plotin-Seminar nach Yale eingeladen, ging am 11. Februar 1939 in Neapel an Bord und konnte am 23. Februar seinen in Berlin wohnenden Eltern telegraphieren: „ARRIVED WELL“ (S. 501). Alle Anstrengungen, Letztere aus Deutschland zu retten, aber scheiterten: Die Eltern sind 1942 bzw. 1943 in Theresienstadt verstorben (S. 186, Anm. 210).

Eine Begabung besonderer Art war Ernst Abrahamson, ein Studienfreund von Kristeller. Er wurde 1934 bei Theodor Hopfner mit einer Arbeit über Sappho promoviert, war 1935 wissenschaftliche Hilfskraft bei Eugen Täubler in Berlin, wurde 1936 Musiklehrer in einem Landschulheim bei Florenz, 1938 Lehrer an der Lehrerbildungsstätte École Normale d’Instituteurs in Châlons-sur-Marne, 1939 Instructor for Romance Languages and Latin an der Howard University in Washington, 1942 Tutor am St. John’s College in Annapolis, Taxifahrer, Visiting Assistant Professor für Französisch und schließlich 1957 Full (‚ordentlicher‘) Professor of Classics and Comparative Literature, starb aber nur ein Jahr später im Alter von gerade einmal 52 Jahren. Mit Abrahamson seit dem Studium in Heidelberg befreundet war Ernst Moritz Manasse. Bei Regenbogen wurde er mit einer Arbeit über Wahrheit bei Platon promoviert und arbeitete später ebenfalls durch Kristellers Vermittlung im florentinischen Landschulheim. Während Frau und Kind nach Brasilien auswanderten, fand Manasse Anstellung in Schwarzen-Colleges. Die Situation derjenigen, die in Deutschland nicht Professor oder Privatdozent gewesen waren, gestaltete sich besonders schwierig. Obermayer kommt hier auch auf die Rolle von Wolfgang Schadewaldt (S. 418, Anm. 39, 593 u. 665, Anm. 242) und Victor Pöschl zu sprechen (S. 593).

Dass schließlich ein Gräzist wie Paul Friedländer, der seine Professur verloren hatte und im KZ Sachsenhausen eingesperrt worden war, aus dem er nur dank des Einsatzes von Rudolf Bultmann über Hans Lietzmann und dessen Verbindungen zu Johannes Popitz heraus kam (S. 636f.), mit fünfundfünfzig Jahren froh sein durfte, im Jahr 1939 als Lecturer, einer Anfängerposition, an der Universität von Los Angeles seinen Unterhalt zu verdienen, spricht Bände. Nach dem Krieg lehnte er eine Rückkehr nach Halle ab. An den Kurator der Universität schrieb er Ende 1945 nicht ohne Stolz: „Ich habe mit meiner Familie in diesem Lande Boden gefunden. Ich bin Bürger der Vereinigten Staaten geworden. Ich habe eine Professur an der University of California inne. Alles dies hat, wie Sie sich denken können, Mühe und Arbeit gekostet. Aber nun fühle ich mich diesem Land und diese(r) Universität verpflichtet“ (S. 665). Erst ab 1954 erhielt Friedländer, wie Obermayer klar stellt, Wiedergutmachung: Nach und nach wurde Friedländer „wieder in die deutsche Gelehrtenrepublik aufgenommen“, indem er 1953 zum Ordentlichen Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts ernannt und in die Heidelberger bzw. Bayerische Akademie der Wissenschaften gewählt wurde (S. 669).

Nur wer, wie der Rezensent, in verschiedenen Universitätsarchiven Personalakten und Nachlässe durchgesehen hat, wird die Leistung von Hans Peter Obermayer angemessen würdigen können. Er versteht es, diese Dokumente mit viel Einfühlungsvermögen zum Sprechen zu bringen. Mit nicht nachlassender wissenschaftlicher Akribie, vor allem aber Liebe zu seinen von der Tyche so hart geprüften, vertriebenen Gelehrten, hat Obermayer eine mustergültige Arbeit vorgelegt. Ihm folgend wäre nun zu fragen, inwieweit die Emigranten auf die wissenschaftlichen Forschungen ihrer Gastländer gewirkt bzw. umgekehrt, inwiefern die Emigranten Impulse der Gastländer in ihre Arbeiten aufgenommen, und diese vielleicht auch auf Deutschland zurückgestrahlt haben.

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